Dienstag, 4. Dezember 2012

Vom Erinnern und vom Warten



Der Regen prasselte gegen das Fenster. Langsam flossen die einzelnen Tropfen herunter. Wir ihre Gedanken. Wie lange saß sie schon hier? Eine Stunde, vielleicht auch etwas länger. Der Regen erinnerte sie an den einen Moment. Er war kurz gewesen, nur für die Dauer eines Herzschlags spürbar und dann auch schon wieder weg. Drei Worte waren es gewesen. Sie konnte sich genau erinnern. „Warte auf mich“. Und jetzt wartete sie hier. Auf jemanden, dessen Namen sie nicht kannte. Nicht einmal sein Gesicht hatte sie gesehen. Sie waren sich nur kurz begegnet. Unten, vor dem Eingang, als sie Schutz suchte, vor dem Regen. Wenn sie aus dem Fenster blickte konnte sie die schwache Beleuchtung sehen.  Völlig durchnässte hatte sie unten gestanden, als die Silhouette eines Mannes auf sie zu kam, wie ein Schatten im Schleier des Regens. Er trat auf sie zu, an ihr vorbei. Und trotzdem spürte sie ein Gefühl der Vertrautheit. Sein Geruch, der sich mit dem des nassen Asphalts mischte, kam ihr bekannt vor. Genauso wie das rasselnde Geräusch seines Atems. Hastig und ungleichmäßig, wie nach großer Anstrengung. Doch als sie das in sich aufgenommen hatte, war er schon wieder verschwunden. Geblieben war nur der kleine Zettel, zwei Mal gefaltet. Und die drei Wörter, in ordentlicher Handschrift geschrieben. „Warte auf mich.“

Jetzt saß sie da. Wartete, ohne genau zu wissen, was auf sie zu kommen sollte. Nicht einmal ob sie am richtigen Ort war, wusste sie.  Doch es fühlte sich richtig an. Der Platz am Fenster. Hier war sie schon einmal gewesen. Aber so wie der Regen am Fenster herunter floss, so waren auch ihre Erinnerungen verflossen. Und sie wusste nicht, wie sie versuchen sollte sich zu erinnern. Doch eines war ihr noch bewusst. Sie war nicht alleine gewesen.

 Ihr Blick wendete sich vom Fenster ab und wanderte durchs Zimmer. Es war ein typisches Hotelzimmer. Auf dem breiten Bett lag ein Briefblock, auf dem sie versucht hatte ihre Gedanken aufzuschreiben und zu ordnen. Ab es war ihr nicht gelungen. Auf dem Abstelltischchen neben ihr stand eine Flasche Wasser. Sie streckte die Hand aus, nahm die Flasche, öffnete sie und trank gierig einen Schluck. Aber auch das half nichts. Ihre Erinnerungen waren an das Treffen waren verschwunden. „Warte auf mich“. Der Zettel lag in ihrer offenen Hand. Und sie wartete, darauf, dass der geheimnisvolle aber doch vertraute Mann kommen würde. Vielleicht hatte er einige Antworten auf ihre Fragen. Vielleichte war er eine Erinnerung, auf die alle anderen aufbauten. Vielleicht konnte sie sich dann wieder an die besonderen Momente ihres Lebens erinnern. Denn vielleicht war er eine Antwort auf all die Narben, die das Leben ihr hinterlassen hatte. Sie hoffte es, denn sie wollte sich endlich wieder erinnern können. 
Es regnete immer noch und langsam begann ihr Kopf zu schmerzen. Sie dachte zu viel nach. Sie versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Also griff sie in ihre Handtasche, die an dem Tischbein lehnte. Sie nahm eine Kopfwehtablette und spülte sie zusammen mit einem Schluck Wasser runter. Es tat ihr gut das kalte Wasser zu spüren. Sie genoss es einfach dazu sitzen und dem Regen zu zusehen. Also beschloss sie einfach zu warten.
Dann klopfte es an der Tür. Drei dumpfe Schläge hallten durch das Zimmer. „Warte auf mich.“  Dann schwang die Tür auf und ein groß gewachsener Mann trat ein. Ein Mann, mit dem sie vieles Verband. Ein Lächeln, das ihr vertraut war. Und Augen, die sie besser gesehen hatten als sie sich selbst. Vor ihr standen ihre Erinnerungen. Sie brauchte sich nur zu erinnern…



 Eine Kurzgeschichte zu dem Bild "Hotel Window" von Edward Hopper.Für den Unterricht.

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